Rennberichte

Nach einem sehr schönen Samstag mit Hamburg Sightseeing, begann der Sonntag früh am Morgen. Ich hatte gut geschlafen, was ich fast für ein schlechtes Zeichen hielt (fehlt die Grundspannung?).
Die rechte Wade muckerte zwar etwas, aber so gering, dass man es ignorieren konnte, die Nase war frei - in den Tagen davor hatte ich eine etwas erhöhte Nasensekretproduktion, von Schnupfen will ich aber nicht sprechen.
In der Halle A2 traf ich meine Bekannten aus dem Forum, leider war dies das einzige Treffen an diesem Wochenende, nach dem Rennen haben wir uns verpasst.
Ich stand auf dem Papier in Startblock C, ging aber erst 5 min vor dem Start in den Startblock und landete wegen des dann üblichen Chaos im Block B, dort allerdings ganz am Ende. Da mir bewusst war, dass ich das Tempo der anderen in diesem Startblock eh nicht mitlaufen kann, war ich beim Start ganz entspannt und musste nicht groß überholen, um frei laufen zu können. Folge war, dass auf der Reeperbahn ganze Scharen von Läufern an mir vorbeizogen. Auf meiner Uhr hatte ich 3 h 14 min als Zielzeit eingestellt und hoffte diese zu unterbieten, das ist psychologisch für mich besser, als wenn ich das Gefühl habe, zu langsam zu sein.
Eine feste Zielzeit hatte ich mir nicht definiert, eher einen Korridor mit Schulnoten. Absolute Traumzeit war 3:09, von 3:10 bis 3:13 war sehr gut, ab 3:14 ging es dann so in den guten Bereich hinein, das zufriedenstellend endete bei 3:19.59.


Da ich als Parameterzeit nur die 1:31:30 vom Halbmarathon im März hatte und ansonsten keine schnellen Läufe jenseits der 10 km gemacht hatte, bestand beim aktuellen Leistungsvermögen ein Unsicherheitsfaktor.
Beim Start rollte ich entspannt von der letzten Reihe im Block B los.
Mein Trainingsgefühl in den letzten 2-3 Wochen war nicht besonders gut, das geplante Marathontempo von ca 4:35 min/km kam mir zuletzt hart vor, zu hart für 42.2 km.
Entsprechend überrascht war ich, dass mein "Wohlfühltempo" auf den ersten Kilometern von St. Pauli nach Altona irgendwo zwischen 4.25 und 4:30 lag. Hatte das Tapering in den letzten 2 Wochen doch noch einen kleinen Leistungsschub gegeben? Ich traute dem Braten erst mal nicht, sondern bremste mich bewußt auf die geplante Pace von 4:35 min/km herunter. Dank der Race Pace Funktion meiner Uhr konnte ich immer sehen, wie ich im Verhältnis auf die Gesamtzeit lag und die Anzeige der Uhr war das ganze Rennen über im Minusbereich, sprich ich war schneller als geplant.
Nach 8 km, an der Wendekurve in Altona, war ich trotz Bremsens schon fast auf eine Minute darunter. Zwischenzeitlich hatte mich einer der 3:00 h Ballonläufer mit seiner Gruppe überholt, der offenbar aus Block C losgelaufen war. Ob einer meiner Bekannten darunter war, war ich mir nicht ganz sicher, da noch viel Gedränge herrschte.
Sicher war ich mir aber ganz schnell, dass ich dem Tempo des Ballonläufers nicht folgen konnte. Spätestens unten am Hafen wäre ich "blau" gewesen, so wusste ich, dass eine Endzeit im Bereich 3.00-3.05 illusorisch ist.
Und dennoch: ich war schneller als geplant, unten am Hafen war die zweite Minute fast herausgelaufen und auch danach lag ich zwar nur geringfügig, aber stetig unter den geplanten 4:35, ohne dass ich mich sonderlich anstrengen musste. Ich erinnerte mich an die Beschreibung des “comfortably hard” Tempos aus meinem Trainingsbuch und dachte, genau so fühlst du dich jetzt. Es ist zwar schon recht hart, das Tempo, aber es ist noch angenehm, das kannst du lange laufen Bei km 14 war das erste Drittel geschafft, Zeit 1:03, mmmhhh, das mal drei, ist die sub 3.10 doch drin?
Bei der Halbmarathonmarkierung lag ich bei 1.35, auch das noch voll im Traumkorridor, ein geringfügiger Negativsplit wie letztes Jahr in Hamburg, da war ich in der 2. Hälfte gut 1 min schneller, und es wird ein perfect day.
Um den km 20 herum war dann auch die dritte Minute bei der Race Pace Anzeige heraus gelaufen, okay es fehlt nur noch eine, das wäre doch gelacht. Keine Änderung der Renntaktik, du läufst weiterhin deine 4:30 min/km und alles wird gut.
Jetzt kamen auch die ersten “Schnellstarter” zurück, mit denen ich entlang der Elbchaussee bis zur Binnenalster lief, die dann davonzogen und nun aber langsamer wurden. Mit ihnen lief ich von km 25 bis 30. Dann war auch die vierte Minute herausgelaufen, die Race Pace Anzeige pendelte zwischen 4.15 und 4.30 Vorsprung auf die geplanten 3:14. Passt das?
Es passte nicht.
Mein “Motor” wäre zwar in dem Tempo weiter gelaufen, aber das “Fahrwerk” war am Limit. Erste krampfartige Zuckungen in den Waden begannen etwa bei km 33 und wurden dann von km zu km schlimmer. Mal zuckte es links, dann rechts,, dann in beiden , dann mal wieder gar nicht usw. Heftiger wurde es ab der Verpflegung bei km 37. Spätestens da war mir klar: das Tempo hältst du nicht bis ins Ziel, irgendwann explodieren dir die Waden. Laufzeit, Pace, Herzfrequenz interessierten jetzt nicht mehr, jetzt musste ich nach Gefühl laufen. Gefühlt 10% Tempo nahm ich raus, aber es half nicht viel, die Krampfansätze gingen nicht weg.
Direkt beim Überlaufen der 40 km Schwelle tat es dann plötzlich einen Schlag. Mein linker Wadenmuskel war fest. Mein spontaner Gedanke: das war es jetzt, die letzten 2 km kannst du “wandern”. .
Ich nahm massiv das Tempo raus und versuchte ganz locker mit kleinenSchritten weiter zu traben. Sieh an: es wurde wieder besser, nicht viel, aber besser. Bei km 41 hatte sich das Ding da unten so weit erholt, dass ich dachte, okay den letzten Kilometer ziehe ich wieder an.. Die Quittung kam auf dem Fuss, bingo, wieder Wade fest. Na gut, dann ein Mittelding beim Tempo, geht das? Die Schmerzsituation erinnerte mich an den Behandlungsstuhl beim Zahnarzt ohne Betäubung, aber 1 km lang hält man das noch durch.
Der letzte Kilometer hatte als besondere Nettigkeit des Streckenplaners einen leichten Anstieg. Normalerweise hätte ich die 0.5% Steigung vermutlich nicht gespürt, aber mit Krampf und 41 km in den Beinen kam sie mir vor wie der letzte Kilometer vom Großen Inselsberg. Hinzu kam heftiger Gegenwind. Dennoch kam das Ziel immer näher, der rote Teppich war erreicht, 3 m vor mir war noch einer, den habe ich im Schlussspurt sogar noch überholt und Finish!! Ausgepumpt stand ich hinter der Ziellinie.
Plötzlich kommen irgendwelche Kameras auf mich zugerollt und ich denke mir: "oh Gott, was hast Du verbrochen?" Aber zum Glück, die Damen und Herrren wollten nichts von mir, unmittelbar vor mir war ein Tagesschau Moderator vom NDR ins Ziel eingelaufen und der "durfte" dann gleich seinen Kollegen ein Interview geben. Beneidet darum habe ich ihn nicht, mir war überhaupt nicht nach Interview.
Der Streckensprecher quatschte etwas von superschneller Laufzeit des Moderators, das ging natürlich jetzt runter wie Öl, denn ich war gerade mal 2 sec hinter ihm in Ziel gekommen (Ergänzung: netto war ich sogar 20 sec bzw. 23 Plätze besser als er, weil er vermutlich in der ersten Startreihe bei den Promis stand und nicht wie ich im Block B ganz hinten. :) )
Von den herausgelaufenen gut 4 Minuten war am Ende nur noch eine halbe übrig, aber die Wunschzeit war geschafft, die direkte Qualifikation für den New York Marathon 2017 als “Time Qualifier” wäre geschafft, wenn sie nicht die Qualifikationszeit ändern (und ich noch nicht weiss, ob das nächstes Jahr passt), und ich war sehr zufrieden, obwohl mein Gang aufgrund der Krämpfe mitleiderregend sein musste, da viele Mitläufer mir Trost spenden wollten (was subjektiv völlig unnötig war, mir ging es blendend) .
Was bleibt? Ein tolles Rennen, eine tolle persönliche Bestzeit, eine hervorragende Platzierung unter den besten 7% meiner Altersklasse, eine unglaubliche Begeisterung am Rand der Strecke, sowie -last but not least- das Gefühl, dass mit 51 Jahren das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist. Ich hatte eine Laufzeit von unter 3 h 10 min am Sonntag im Prinzip drauf. Wenn ich weiter so trainiere und meine Laufmuskulatur noch ein bisschen stabiler wird, ist auch dieser Schritt drin.
Darauf einen Jack Daniels! (so heisst der Schreiber meiner Trainingspläne aus den USA; er ist aber nur namensgleich mit dem Whiskeys

Wolfgang Kölsch

Mountainbike Team
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